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Rückblick Tagung

Reproduktive Gerechtigkeit im Dialog der Disziplinen

Bericht zur Tagung „Reproduktive Selbstbestimmung im gesellschaftlichen Wandel: Interdisziplinäre Perspektiven und aktuelle Herausforderungen“

1.–2. September 2025, Bucerius Law School, Hamburg.

Mareike Grapke: M.A.-Studentin Soziologie, Universität Rostock; studentische Hilfskraft im Forschungsprojekt ReproGerecht

Fiona Richter: Referentin der Gleichstellungsbeauftragten, Universität Greifswald

Anna Schneeberg: Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin, Bucerius Law School

Das Forschungsnetzwerk ReproGerecht richtete am 1. und 2. September 2025 die interdisziplinäre Tagung „Reproduktive Selbstbestimmung im gesellschaftlichen Wandel: Interdisziplinäre Perspektiven und aktuelle Herausforderungen“ an der Bucerius Law School in Hamburg aus.

Die Gründerinnen des Netzwerks, Prof. Dr. Anne-Kristin Kuhnt (Universität Rostock), Prof. Dr. Dana-Sophia Valentiner (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg) und Prof. Dr. Henrike von Scheliha (Bucerius Law School, Hamburg), eröffneten die Tagung mit einem Grußwort. Sie unterstrichen das Ziel von ReproGerecht: Reproduktive Gerechtigkeit sei ein vielschichtiges Konzept, das nur durchdrungen werden könne, wenn unterschiedliche Disziplinen, wie die Rechts- und Sozialwissenschaften, Medizin, Ethik, Philosophie und Politikwissenschaft in einen Dialog treten. Das 2024 mit dem Norddeutschen Wissenschaftspreis ausgezeichnete Forschungsnetzwerk ReproGerecht soll hierfür den Raum schaffen. An der Tagung nahmen rund 30 Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen teil.

Prof. Dr. Heike Trappe (Universität Rostock) eröffnete das erste Panel mit einem Vortrag zu „Demographische Perspektiven auf den Kinderwunsch und die Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Assistenz in Deutschland“. Sie zeigte auf, wie sich Familienformen und das Alter bei der Geburt von Kindern entwickelt haben, wie lückenhaft die Datengrundlagen zur Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Assistenz sei und wie sozial selektiv der Zugang dazu erfolge.

Prof. Dr. Hannah Ofterdinger (Universität Hamburg) ergänzte die soziologischen Befunde durch eine strafrechtliche Perspektive. Sie machte deutlich, dass gesetzliche Regelungen – etwa zum Schwangerschaftsabbruch oder im Embryonenschutzgesetz – individuelle Wünsche und Bedürfnisse oft unzureichend berücksichtigten.

Trappe betonte, dass Familie nicht nur durch Reproduktion, sondern auch durch ihre Sozialisationsfunktionen definiert sei. Sie wies auf den Rückgang von Familien mit Kindern unter 18 Jahren um eine Million zwischen 1996 und 2024 hin. Dadurch stellen Familien zunehmend eine Minderheit dar. Zugleich ist ein Rückgang von Ehepaaren mit Kindern zugunsten nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern festzustellen, was eine Pluralisierung von Familienformen aufzeige. Nur jede 200. Familie mit Kindern ist eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft. Empirisch ist

jedoch belegt, dass das Kindeswohl weniger von der Familienform als von der Qualität sozialer Beziehungen abhängt. Trappe kritisierte, dass in der amtlichen Statistik biologische und soziale Elternschaft nicht getrennt erfasst und haushaltsübergreifende Beziehungen ausgeblendet werden. Zudem bleibe unklar, wie hoch der Anteil gewollter und ungewollter Kinderlosigkeit tatsächlich ist. Mit einer Kinderlosenquote von rund 20 Prozent zählt Deutschland europaweit zur Spitzengruppe.

Der Begriff „Kinderwunsch“ sei zudem terminologisch unscharf. Da nicht alle Personen mit unerfülltem Kinderwunsch medizinische Reproduktionsmaßnahmen ersuchen, lasse sich die Zahl potenzieller Nutzer:innen kaum bestimmen. Die vorhandenen Daten beruhen vorwiegend auf Selbstauskünften. Auch zu Abbrüchen von Behandlungen oder zur reproduktiven Mobilität gebe es kaum empirische Daten.

Bis 2004 waren Frauen bei der Geburt im Durchschnitt zwischen 25 und 29 Jahre alt. Inzwischen erfolgt der Großteil der Geburten zwischen dem 30. und dem 34. Lebensjahr. Aktuell stagniert der Anstieg des Geburtenalters auf hohem Niveau. Dadurch verkürze sich das reproduktive Fenster, sodass zukünftig mehr Menschen auf assistierte Reproduktion angewiesen sein könnten. Allerdings sind die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme durch die GKV restriktiv, sodass der Zugang zu reproduktionsmedizinischen Behandlungen sozial selektiv ist.

Ofterdinger knüpfte daran an und zeigte, dass rechtliche Zugangsvoraussetzungen zur Reproduktionsmedizin immer auch gesellschaftliche Wertentscheidungen transportierten: Sie legen fest, wann ein Kinderwunsch als „richtig“ gilt und unter welchen Bedingungen Kinder erwünscht erscheinen. Gerade das Embryonenschutzgesetz von 1990 sei in dieser Hinsicht nicht mehr zeitgemäß. Ofterdinger plädierte daher dafür, Akteur:innen stärker in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Wertvorstellungen und rechtlicher Regelungen zu rücken.

Bereits das erste Panel zeigte eindrucksvoll, wie gewinnbringend der Dialog zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften sein kann. Erst dadurch werden tieferliegende Problematiken verständlich und Argumente aus der Rechtswissenschaft können durch empirische Befunde entkräftet oder verstärkt werden.

Am Nachmittag bot das Format „Coffee & Connect“ Gelegenheit zum Austausch, bevor die Teilnehmer:innen gemeinsam den Film Joy (2024) sahen. Ergänzend zum wissenschaftlichen Diskurs veranschaulichte der Film, wie die In-vitro-Fertilisation in den 1960er- und 1970er-Jahren unter wissenschaftlicher Beharrlichkeit, gesellschaftlicher Skepsis und Verflechtung mit persönlichen Entwürfen realisiert wurde – aus der Perspektive der vielfach übersehenen Embryologin Jean Purdy. Der erste Tag endete bei einem gemeinsamen Abendessen mit weiterem Austausch.

Nachdem die Referentinnen am ersten Tag die empirischen Grundlagen sowie die Widersprüche zwischen Realität und Recht dargestellt hatten, begann der zweite Tag mit einem Panel, das die enge Verflechtung rechtlicher Grundsatzfragen reproduktiver Gerechtigkeit mit politischen und gesellschaftlichen Bedingungen beleuchtete. Prof. Dr. Frederike Wapler (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) sprach über „Reproduktive Selbstbestimmung als Grund- und Menschenrecht“.

Sie ordnete reproduktive Rechte in internationale Diskurse seit der Weltfrauenkonferenz 1995 ein und hob die Sonderstellung der deutschen Rechtslage hervor, die noch immer vom jüngsten BVerfG-Urteil

zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr 1993 geprägt sei. Während reproduktive Rechte international zunehmend als Freiheitsrechte verstanden werden, behandele dieses Urteil den weiblichen Körper als Objekt fremdbestimmter Schutz- und Abwägungserwägungen. In ihrem anschließenden politikwissenschaftlichen Kommentar betonte Dr. Monika Ewa Kaminska-Visser (Universität Bremen) ebenfalls die Sonderstellung Deutschlands beim Schwangerschaftsabbruch im europäischen Vergleich.

Wapler machte deutlich, dass das aktivistische Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit zunächst in innerstaatliches Recht übersetzt werden müsse. Ansatzpunkte seien das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), die Familiengründungsfreiheit (Art. 6 Abs. 1 GG), der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und das Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 GG) sowie die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG). Wer reproduktive Selbstbestimmung im Sinne gleicher Freiheit aller ernst nimmt, müsse jedoch auch soziale, kulturelle, ökonomische und rechtliche Rahmenbedingungen berücksichtigen. Das zeigte: Reproduktive Gerechtigkeit kann nicht eindimensional gedacht werden – eine Analyse ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit bleibt unvollständig.

Die Notwendigkeit dieses Dialogs wurde besonders veranschaulicht in der Debatte um die Legalisierung der Eizellabgabe. Wapler, die Mitglied der Arbeitsgruppe 2 der Regierungskommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin (2023-2024) war, kritisierte paternalistische Schutzargumente, die Frauen vor Risiken oder gar vor sich selbst bewahren wollen. Um den Grundrechten gerecht zu werden, müssten vielmehr tatsächliche Gefahren wie Ausbeutung, strukturelle Unterdrückung oder Informationsdefizite identifiziert und rechtlich adressiert werden, ohne die Selbstbestimmung der Individuen von vornherein zu delegitimieren. Wapler und anschließend auch Kaminska-Visser wiesen auf das Ungleichgewicht zwischen erlaubter Samenspende und verbotener Eizellabgabe hin. Zugleich betonte Wapler, dass ein Vergleich nur begrenzt möglich sei, da die Eizellabgabe erhebliche körperliche Eingriffe und medizinische Betreuung erfordere – ein Aspekt, der in der anschließenden Diskussion interdisziplinär erörtert wurde.

In der Debatte um die rechtliche Regelung der Eizellabgabe sei zudem wichtig zu beachten, dass nationale Verbote nicht zur Begrenzung, sondern zur Verlagerung reproduktiver Praktiken führen. Ein Beispiel hierfür sei der Import von Eizellen aus Ländern mit geringen Schutzstandards oder prekären Bedingungen. Kaminska-Visser stellte diese Vielschichtigkeit der Problematik in den europäischen Kontext und machte Widersprüche des deutschen Rechts sichtbar: Während ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten neun Wochen untersagt ist, werden überzählige kryokonservierte Embryonen vernichtet. Zudem erzeugt das Embryonenschutzgesetz durch seine Schutzlogiken zugleich suboptimale Gesundheitsfolgen für Patientinnen. Somit werde die Schutzargumentation in sich selbst widersprüchlich und ihre normativen Grundlagen gerieten ins Wanken.

Das zweite Panel zeigte erneut, wie vielschichtig die Themen reproduktiver Gerechtigkeit sind und dass es dabei keine Schwarz-Weiß-Lösungen gibt.

Eine wichtige Perspektive fehlte noch: Im dritten Panel sprach PD Dr. med. Maren Goeckenjan (Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, TU Dresden) über das Thema „Reproduktive Gesundheit – reproduktive Rechte“ aus medizinischer Sicht. Sie hob hervor, dass reproduktive Gesundheit weltweit oft durch den fehlenden Zugang zu Verhütungsmitteln und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen gefährdet sei. Unsichere Schwangerschaftsabbrüche sind weltweit die dritthäufigste Ursache für Todesfälle im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt. Jede Schwangerschaft bedeute eine tiefgreifende körperliche und soziale Veränderung, weshalb eine kontinuierliche medizinische Begleitung nötig sei.

Auch Goeckenjan-Festag betonte die bereits vielfach angesprochene Unerlässlichkeit eines transnationalen Blicks auf Fragen reproduktiver Gerechtigkeit. Weltweit haben nur wenige Menschen die Möglichkeit, einen unerfüllten Kinderwunsch mithilfe von Verfahren wie der In-vitro-Fertilisation zu realisieren. Insbesondere im sogenannten Globalen Süden fehle es an der entsprechenden Versorgung. Goeckenjan-Festag plädierte dafür, dass medizinische und soziale Versorgungssysteme kontinuierlich auf neue Fragestellungen reagieren müssten, die durch sexuelle Selbstbestimmung entstehen. Letztlich sei reproduktive Gesundheit individuell definiert und sollte stets das Wohl der betroffenen Person in den Mittelpunkt stellen.

Mit ihrem Kommentar, durch den sie die anschließende Diskussion einleitete, führte Valentina Chiofalo (FU Berlin) aus, dass das Verfassungsrecht mit dem Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG eigentlich genau das erreichen will. Der Staat habe gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG die Aufgabe, diskriminierende Strukturen zu überwinden.

Das einfache Recht mache jedoch genau das Gegenteil und widerspreche damit den von Goeckenjan-Festag betonten medizinischen Maximen. Rechtliche Regelungen gingen vielfach von der Erwartung einer heterosexuellen, verheirateten Familie als das „Natürliche“ der Reproduktion aus. Abweichungen von diesem Leitbild würden implizit als „unnormal“ markiert.

Wie zuvor bereits Trappe verwies Chiofalo exemplarisch auf die Kostenübernahme der GKV für Samenspenden. Daneben wies sie aber auch auf eine Musterrichtlinie der Bundesärztekammer zur assistierten Reproduktion aus dem Jahr 2006 hin, die gleichgeschlechtliche Paare und Alleinerziehende vom Zugang zu reproduktionsmedizinischen Behandlungen ausschloss, um Kinder vor einer vermeintlichen Gefährdung der Eltern-Kind-Bindung zu schützen. Zwar gilt inzwischen eine neue Musterrichtlinie der Bundesärztekammer, die diese Inhalte nicht mehr umfasst. Viele Landesärztekammern haben daraufhin jedoch keine eigenen Richtlinien erlassen, oder die bestehenden Richtlinien sehen keinen expliziten Zugang unabhängig von sexueller Orientierung oder Familienstand vor. Somit bleibt es den einzelnen Ärztinnen und Ärzten überlassen, welche „Normalitätsvorstellungen” sie in ihre medizinische Praxis einfließen lassen. Eine Ausnahme bildet die Ärztekammer Hamburg, die die assistierte Reproduktion für Lebenspartnerinnen ausdrücklich erlaubt.

Abschließend stellte Chiofalo die Frage, ob die zunehmende Verfügbarkeit assistierter Reproduktion nicht zugleich den gesellschaftlichen Druck verstärke, Kinderwünsche um jeden Preis zu realisieren. Damit startete sie eine kontroverse Diskussion unter den Teilnehmer:innen.

Den Schlusspunkt bildete das von Fiona Richter (Universität Greifswald) und Anna Schneeberg (Bucerius Law School) moderierte „World Café“. In Kleingruppen diskutierten die Teilnehmer:innen bestehende Forschungslücken und mögliche zukünftige Beiträge des Netzwerks, um diese zu schließen. Die Ergebnisse wurden im Plenum und einer Abschlussdiskussion gebündelt. Während einige die Vielschichtigkeit des Konzepts als Herausforderung sahen, betrachteten andere sie als Stärke. Einig waren sich die Teilnehmer:innen darin, dass das Netzwerk insbesondere jene Gruppen berücksichtigen solle, die durch strukturelle Barrieren an reproduktiver Selbstbestimmung gehindert sind. Zum Abschluss der Tagung gaben die Gründerinnen in ihrer Verabschiedung zugleich einen Ausblick auf kommende Aktivitäten und Kooperationen.

Die Tagung „Reproduktive Selbstbestimmung im gesellschaftlichen Wandel: Interdisziplinäre Perspektiven und aktuelle Herausforderungen“ ausgerichtet vom Forschungsnetzwerk ReproGerecht leistete einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit, das nur in der Zusammenschau von rechtlichen Grundlagen, sozialen Bedingungen, medizinischen Erfahrungen, psychologischen Untersuchungen und internationalen Verflechtungen angemessen erfasst werden kann. Zugleich bot sie Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen und neue Forschungskooperationen anzustoßen. Die nächste Tagung des Forschungsnetzwerks ReproGerecht findet am 29. und 30. Juni 2026 in Hamburg statt.

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1. September

Tagung "Reproduktive Selbstbestimmung im gesellschaftlichen Wandel"

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4. Dezember

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